Interview mit Hansjörg Huber: „Wie kamen Sie dazu, ein Kinderdorf in Marokko zu gründen?“

Autor: Nadia Saadi

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Wie kamen Sie dazu, ein Kinderdorf in Marokko zu gründen?

Ich habe schon seit mehr als 50 Jahren eine Sensibilität für die Schwachen. „Wieso hat er nichts und ich habe alles?“ Diese Frage beschäftigt mich, seit ich als 22-Jähriger ein Kinderdorf in der Schweiz besuchte. Da wusste ich, eines Tages möchte ich etwas Ähnliches errichten. Nachdem ich meine Karriere als Unternehmer in der Versicherungsbranche beendet hatte, bin ich in Marokko auf das Schicksal der weggelegten Kinder gestoßen. 2008 zog ich gemeinsam mit meiner Lebensgefährtin von Küsnacht bei Zürich nach Marrakesch und beschloss, die Hälfte meines Vermögens abzugeben, um das Dorf zu errichten. 2013 begann der Bau, 2015 zogen dann die ersten Kinder ein.

Wie gelangen die Babys und Kinder in Ihr Kinderdorf?

Wer die weggelegten Babys findet, bringt sie meist in eine der Auffangstationen des Landes. Diese aber sind überfüllt. Für individuelle Förderung, Spiel und Spaß bleibt hier keine Zeit. Einige unserer Kinder kamen direkt von dort in unsere Dorfgemeinschaft. Andere stammen aus stark zerrütteten Familien. Allerdings kommen die meisten unser Atlas Kinder schon als Baby ins Dorf und werden uns von Familiengerichten zugesprochen.

In welchem Zustand sind die Kinder, wenn sie ins Dorf kommen?

Viele unserer Babys sind bereits traumatisiert, noch bevor sie das Licht der Welt erblicken. Schließlich hat sich niemand auf ihre Geburt gefreut. Einige Kinder kommen aus kaputten Familien, haben Schreckliches erlebt und sind ganz steif und verängstigt, wenn wir sie aufnehmen. Es ist schön zu sehen, wie sie sich im Laufe der Zeit öffnen und entwickeln. Wir müssen alles tun, damit jedes einzelne Kind sein Trauma überwindet, sich geliebt, beschützt und geschätzt fühlt.

Woher kommen die Pflegemütter der Kinder?

Unsere Pflegemütter kommen meist aus den umliegenden Dörfern. Wir suchen sie mit größter Sorgfalt aus. Sie sind nicht nur die wichtigste Bezugsperson für die Kinder, sondern auch Bindeglied zur traditionellen Gemeinschaft. Die Pflegemütter werden umfassend geschult und bekommen eine Ausbildung in Gesundheitsfürsorge und Hygiene.

Wie lange bleiben die Kinder im Dorf?

Das Kinderdorf ist das Zuhause der Kinder. Sie sind auch als Erwachsene jederzeit willkommen.
Wir sind für die Erziehung der Kinder verantwortlich und müssen ihnen später auch eine Ausbildung oder ein Studium ermöglichen. Unsere Kinder sollen zu gleichwertigen Mitgliedern der marokkanischen Gesellschaft heranwachsen. Vielleicht können sie dann später die nächste Generation der Atlas Kinder unterstützen.

Woher kommt der Name Atlas Kinder?

Unser erstes Kinderdorf liegt am Fuße des Atlasgebirges. Atlas steht auch für die Weltkugel, der Name steht für Internationalität. Ich möchte einen Leuchtturm schaffen, ein Pilotprojekt zur Nachahmung. Ich möchte den Kindern dieser Welt, die keine Chance haben, Visionen und Bildung schenken. Man könnte weltweit solche Dörfer bauen. Es gibt Tausende von Hubers, die ein gutes Herz und genügend Geld haben, um ähnliche Dörfer zu errichten. Meine restliche Lebenszeit gehört auf jeden Fall den Kindern.

Sie haben nicht nur eine Vorschule gebaut, sondern im ersten Kinderdorf auch eine eigene Grundschule eröffnet. Warum?

Wir hatten unsere schulpflichtigen Kinder zunächst auf eine staatliche Schule geschickt, aber dort wurden sie als „Kinder der Schande“ stigmatisiert und kamen verstört und traumatisiert nach Hause. Wir mussten schnell handeln und haben im September 2018 unsere eigene Schule eröffnet. Selbstverständlich berücksichtigen wir den religiösen, historischen und kulturellen Kontext der marokkanischen Gesellschaft sowie die landeseigenen Bildungsgesetze. Die Organisation „La Fabrique des Écoles“ hat uns die Fertigstellung des Rohbaus finanziert, darüber sind wir sehr dankbar. 2020 wurde die Schule dann, dank einer Partnerschaft mit einer Privatbank in Genf erweitert.

Ihr erstes Kinderdorf Dar Bouidar hat eine eigene Galerie mit wertvollen Werken, die Sie zugunsten der Atlas Kinder verkaufen? Wie kam es dazu?

Ich habe mein ganzes Leben lang überall auf der Welt Kunstwerke gesammelt. Jedes Bild hat eine Geschichte. Jetzt verkaufe ich die Werke und der Erlös geht an unsere Organisation. Du kaufst ein Bild, hilfst den Kindern und gibst dem Bild, das du erworben hast, gleichzeitig eine neue Geschichte. Ein wunderbarer Kreislauf.

In wenigen Sätzen zusammengefasst, was ist die Philosophie der Atlas Kinder?

Wir haben ein Gemälde in unserem ersten Dorf mit der Aufschrift „Fierté“, das bedeutet Stolz. Darum dreht sich alles. Wir wollen aus unseren Kindern stolze und starke Menschen machen, die sich nicht erdrücken lassen, nur weil sie ohne ihre leiblichen Eltern aufwachsen. Sie müssen besonders stark sein, sonst gehen sie unter. Wir müssen durch unsere Erziehung den fehlenden Familienstolz ersetzen. Unsere Kinder sollen später sagen können: „Ich spreche vier Sprachen, ich spiele ein Musikinstrument, ich kann tanzen und reiten – und was kannst du?“

Was wünschen Sie sich für Ihre Atlas Kinder?

Ich wünsche mir, dass die Stigmatisierung der weggelegten Kinder aufhört, wünsche mir ein Umdenken in der Gesellschaft. Wünsche mir, dass Kinder, die elternlos aufwachsen nicht mehr ausgegrenzt werden. Vor allem aber wünsche ich mir, dass eines Tages keine Mutter mehr gezwungen ist, ihr Kind wegzulegen.

Die Atlas Kinder in 15 Jahren – wie sieht Ihre Vision aus? 

Die erste Generation der Atlas Kinder findet als Handwerker, Lehrer, Anwalt oder Arzt einen Platz in der Gesellschaft, das gilt selbstverständlich auch für unsere Mädchen. Keines unserer Kinder wird länger stigmatisiert oder diskriminiert. Es gibt auf der ganzen Welt Atlas Kinder-Dörfer, sodass jedes weggelegte Kind liebevoll aufgefangen wird und beste Chancen für die Zukunft hat.

Pressekontakt / Interviewanfragen:
Nadia Saadi
Tel: +49 172/670 99 58
E-Mail: press@atlas.kinder.org
www.atlas-kinder.org

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